von Stefanie Christmann
Die Vorsitzende der Esel-Initiative, Stefanie Christmann, war im August/
September 2016 fünf Wochen in Nepal, um das Projekt im nördlichen, hochgelegenen (Upper) Dolpa zu prüfen. Sie hat die Klimaschädlichkeit des Fluges über eine Abgabe an www.atmosfair.de gemildert und die Reisekosten gespendet.
Sechs Jahre nach der ersten Vergabe von Naks in Dolpa (Reisebericht 2010) habe ich so viele erfolgreiche Mütter getroffen, dass ich nicht weiß, welche ich für den Reisebericht auswählen soll.
Die 53jährige Witwe Pema P. hatte ihr Nak und ihre zwei weiblichen Kälber am Vortag extra nach Danegard getrieben, damit ich die Tiere sehen sollte, aber nachts sind die drei Vierbeiner wieder zu ihrer grüneren Hochweide gelaufen. Pema hat ihr Nak vor vier Jahren erhalten. Das älteste, männliche Kalb hat sie etwas früher als geplant verkauft, aber trotzdem umgerechnet mehr als 60.000 Rupien (100 Rupien = ca. 1 Dollar) bekommen. Dieses Geld brauchte sie damals dringend für die Schulbildung und das Hostel für ihre beiden Töchter. Sie besuchen in Phoksundo die 9. bzw. 10. Klasse. Das ist ein für Dolpa extrem hoher Bildungsgrad für Mädchen. Pro Tochter und Jahr muss Pema 20.000 Rupien für Schulgeld, Kleidung, Unterbringung, Essen etc. aufbringen. Etwas Geld vom Verkauf des Naks besitzt sie noch als Reserve. In der Regel bestreitet sie diese Kosten je zur Hälfte aus dem Verkauf von Butter und Tschurpi (Hartkäse aus Nakmilch) und aus Tagelöhnerarbeit, wobei es allerdings schwierig ist, Bargeld statt der üblichen Entlohnung (in Gerste) zu bekommen. In den meisten Dörfern ist der Verkauf von Milchprodukten an durchreisende Händler für die Mütter die einzige Möglichkeit, Rupien zu bekommen. Für 1 kg Butter zahlen die Händler ca. 2000 Rupien und für 1 kg Tschurpi 1000 Rupien. Viele unserer Mütter hatten 5-9 kg Butter auf Lager und warteten auf durchziehende Händler, da Käufer im Dorf „in Gerste“ und deutlich weniger bezahlen. Gut zubereitete Butter von einer Höhe von 4000 m (4000 m ist die durchschnittliche Höhe der Dörfer in Upper Dolpa, die Hochweiden liegen deutlich höher) kann man nach Aussage der Einheimischen bis zu 2 Jahre aufheben und genießen.
Was als Wohlstand erlebt wird
Milchprodukte und Einkommen zu haben, bezeichneten die Mütter als wichtigste Verbesserungen durch das Nak. Die 34jährige Karma J., unverheiratete Mutter eines 9jährigen Sohnes, sagte, das Nak habe den „Wohlstand“ gebracht, „das Kind großziehen zu können, ohne leihen zu müssen“. Karmas Nak hat inzwischen ebenfalls drei Nachkommen geboren. Karma will alle weiblichen Kälber behalten. Ihr einziges männliches Kalb will sie verkaufen, „aber erst, wenn es so groß ist, dass ich 80.000 Rupien dafür bekomme“. Das Geld werden sie und ihr Sohn brauchen, denn wenn ihre alte Mutter stirbt, kann Karma nicht im Haus des Bruders wohnen bleiben.
Manche Mütter träumen vom Reichtum einer eigenen Nakherde. Einige sind dem Traum schon ein großes Stück näher gekommen: Nima S., die frühere Gruppenleiterin aus Tinjegaon (Vergabe 2010), hat bereits fünf Tiere: das Muttertier, drei weibliche und ein männliches Kalb. Das Yak will sie ab 2017 für den Handel mit dem nahen Tibet und andere Transporte (zur Getreidemühle und den Hochweiden etc.) einsetzen. Viele Mütter haben inzwischen drei Kälber. Aber manche haben auch sehr junge Tiere bei starkem Schneefall oder großer Kälte verloren. Auch der Schneeleopard hat etliche kleine Kälber gerissen. Dolpa ist Schutzgebiet für diese vom Aussterben bedrohte Großkatze.
Die Mütter haben sich anderen Hütegemeinschaften angeschlossen
Die Mütter nehmen enorme Anstrengungen auf sich, um ihre wertvollen Tiere (im Fall der unverheirateten Mütter meist der einzige Besitz) gut zu ernähren und die Milch zu erhalten. Laxmi, die Präsidentin unseres Kooperationspartners Sahayog Himalaya-Nepal (SHN), hatte alle allein erziehenden Mütter/Großmütter eines oder mehrerer Dörfer zu neuen Hütegemeinschaften zusammengefasst (Reisebericht 2010), damit jede Mutter Mitglied einer Hütegemeinschaft werden konnte. Die Regelung war, dass die Gruppe auch die Hütedienste für allein erziehende Großmütter oder behinderte allein erziehende Mütter übernimmt, diese aber trotzdem ihren Anteil an den Milchprodukten erhalten. Diese Gruppen haben sich nach 1-3 Jahren aufgelöst. „Die Frauen kannten sich oft nicht genug und vertrauten sich zu wenig. Wenn der Schneeleopard sich ein Kalb holte oder eins wegen der Winterkälte starb, machten einige den Müttern Vorwürfe, die zu der Zeit Hütedienst hatten“, berichteten nahezu gleichlautend alle ehemaligen Gruppenleiterinnen.
Inzwischen können alle Mütter ihre Tiere mit Verwandten und Freunden halten und mit ihnen in Rotation hüten. Im Winter gehen manche Herden (und innerhalb des Rotationssystems auch die allein erziehenden Mütter) bis ins niedriger gelegene südliche (Lower) Dolpa, weil z.B. in der Region um Saldang im Winter selbst für Naks eine zu hohe Schneeschicht das Grün bedeckt. Die Mütter wohnen dann meist in traditionellen Zelten aus Nakwolle. Großmütter und behinderte allein erziehende Mütter sind jetzt darauf angewiesen, dass ihnen Verwandte oder Freunde die Hütedienste abnehmen und sie fair behandeln. Die Großmutter Pema G. (Reisebericht 2010) ist auch mit der neuen Regelung eine unserer erfolgreichsten Mütter: Sie hat ein Nak und 4 Kälber (2 weibliche, 2 männliche). Sie hat selbst eine minderwertige lokale Kuh gekauft, sie aber erfolgreich mit einem Yak gekreuzt. Dieser Nachwuchs gibt ebenfalls viel Milch. Pemas jüngste Tochter übernimmt die Hütedienste, gibt ihr aber alle Milchprodukte. Pro Jahr verdient Pema, obwohl sie auch selbst Butter und Tschurpi isst, 20.000 Rupien am Verkauf. Davon schickt sie für Nahrung und Kleidung 5000-10.000 Rupien an ihr Enkelkind, das inzwischen in Kathmandu zur Schule geht. Spinnen und Weben, 2010 ihre Haupteinnahmequelle, kann sie nicht mehr, aber „es geht mir und dem Enkel trotzdem gut“.
„Nyellu“ zu werden, ist eine Gefahr, kann aber auch notwendig sein
Etliche Mütter nehmen ihre älteren Töchter nicht nur im Winter, wenn im nördlichen Dolpa alle Schulen (außer in Dho-Tarap, das über einen sonnengewärmten Schulraum verfügt) geschlossen sind, mit zu den Hochweiden, sondern auch in der grünen Jahreszeit. Sie fürchten, die Töchter könnten sonst „nyellu“ (unverheiratet schwanger/Mutter) werden. Upper Dolpa liegt wenige Tagesreisen von der tibetischen Grenze entfernt, und viele Nak- und Mulitreiber bringen neben anderen Waren auch Alkohol aus China mit. Sie selbst und viele Männer in Dolpa trinken viel Alkohol, viele Frauen leiden darunter und auch unter häuslicher Gewalt. – Eine Mutter mit einer kleinen Tochter hat sich unterwegs unserem Treck angeschlossen, um dieser Situation zu entfliehen und stattdessen irgendwo anders als Tagelöhnerin (mit einem angemieteten Zimmer) neu anzufangen. Beide trugen einen Rucksack mit Kleidung, Gerste als Proviant, einem Kochtopf und Decken. Das war alles, was sie tragen konnten. Sie hatten weder Zelt noch Plane. – Upper Dolpa ist unsicher, insbesondere für junge Mädchen, es ist eine raue Männerwelt. „Nyellu“ zu werden gilt in den meisten Orten Upper Dolpas als schwere Schande für das Mädchen, obwohl die hohe Zahl unverheirateter Mütter fast zwangsläufige Folge des Mangels an heiratsfähigen Männern ist: Viele Söhne gehen ins Kloster, andere in Städte oder nach Indien und vor allem ist Polyandrie weit verbreitet (da das Erbe oft nur einer Familie ein Auskommen sichern kann, darf nur der älteste Sohn, der Alleinerbe, heiraten; mit seiner Frau sind auch seine Brüder „verheiratet“). Bemerkt eine Mutter aus Tinjegaon oder Charka, dass ihre Tochter schwanger ist, versuchen die Eltern zunächst, den werdenden Vater ausfindig zu machen, zur Anerkennung der Vaterschaft und zur Heirat zu bewegen. Das gelingt aber nur selten. Gibt der Mann die Vaterschaft zu, will/kann das Mädchen aber nicht heiraten, kann er sich für 1500 Rupien (weniger als 1 kg Butter) freikaufen. Das Mädchen wird, wenn es nicht heiraten kann, in fast allen Fällen noch während der Schwangerschaft verstoßen. Ein Kind zu haben, ist aber notwendig zur Altersversorgung – oder sogar früher, wenn die Mutter aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten kann: Die allein erziehende Nima L. aus Tinjegaon schickt jetzt schon meistens ihre 10jährige Tochter zu den Tagelöhnerdiensten, zu denen sie als Wohnungsmiete oder für den Lebensunterhalt gezwungen ist. Viele der unverheirateten Mütter werden erst gegen Ende des gebärfähigen Alters „nyellu“, weil sie offensichtlich keine Chance mehr auf eine Heirat sehen, aber eine Stütze fürs Alter brauchen. Der von verschiedenen Organisationen gesponserte Schulbesuch in Kathmandu oder Indien ab Klasse 6 (die Dorfschulen in Upper Dolpa haben meist nur 4-5 Schuljahre) ist gut für die Kinder, aber schlecht für diese Mütter, die ihrem Kind nicht mit einem Erbe den Weg zurück ins Dorf attraktiver machen können. Viele allein erziehenden Mütter investieren fast ihr gesamtes Einkommen in die Unterstützung
ihres weit entfernt lebenden Kindes und um Kontakt zu halten. Karma P. aus Dho-Tarap schickt ihren beiden Söhnen nahezu ihr ganzes Einkommen: Ein Sohn lernt im Kloster in Kathmandu, er wird Mönch und nicht zurückkommen. Den anderen hat ein Sponsor in eine weltliche Schule nach Indien verschlagen und Karma tut alles ihr Mögliche, um mit ihm in Kontakt zu bleiben, damit er hoffentlich zurückkehrt. Karma hat weder ein eigenes Zimmer noch ein Feld, sie spricht weder Nepali noch Hindi, sondern nur Tibetisch. Aber wenn sie genug Geld beisammen hat (40.000-50.000 Rupien) geht sie zu Fuß bis Nepalgunj und fährt von dort mit dem Bus 2 Nächte und 1 Tag zu ihrem Sohn, um ihn zu besuchen. Es kehren kaum Kinder zurück in die Armut der Bergdörfer Upper Dolpas. Man hat in Upper Dolpa viel stärker den Eindruck einer alternden Gesellschaft als in Deutschland, das im Vergleich reich an Jugendlichen ist.
„Nyellu“ zu sein, bedeutet ein schweres Leben zu haben.
Die Lebensbedingungen unverheirateten Mütter sind oft katastrophal, z.T. sogar gefährlich. Wenn sie Glück haben, finden sie einen Vermieter, der ihnen ein Räumchen für 10-15 Tage Arbeit (auf dem Feld/Schneedienst/Holz schlagen etc.) pro Monat gibt. Das reduziert die Arbeitstage, die für den Erwerb von Nahrung, Kleidung, Schulgeld etc. genutzt werden können, außerordentlich. Viele dieser Räumchen sind zudem bei Schnee und Regen undicht. Die Mütter leben dann in einer permanenten Anstrengung zur Abdichtung der Flachdächer. Manche Schwangere/allein erziehende Mutter kann vorübergehend beim Bruder wohnen, aber meist im schlechtesten Raum. Als wir z.B. Shinzin G. zu Hause besuchten, stellte sich heraus, dass das Souterrainzimmer – wie oft bei Regen – 10 cm hoch mit Schlamm bedeckt und unbegehbar war. Andere, wie Chiring J., haben einen kleinen dunklen Raum ohne Holzfußboden und nahezu ohne Einrichtung. Durch eine Dachluke fällt Licht ein (bzw. Schnee und Regen), ein Stromkabel auch zu ihrem Zimmer gibt es nicht.
Besonders katastrophal waren die Lebensumstände von Tsündi G., einer 24jährigen unverheirateten Mutter einer 4jährigen Tochter. Tsündi stammt aus einer Mittelschichtfamilie. Als sie 12 Jahre alt war, verheiratete sich zuerst der Vater neu, danach die Mutter. Tsündi blieb im Dorf zurück und schlug sich als Schäferin für andere Dorfbewohner durch. „Irgendwann wurde ich dann nyellu und vom Dorf verstoßen“, berichtete sie weinend. Sie fand für die Sommermonate Unterschlupf in einer Zeltsiedlung außerhalb des Dorfes. Dort übernachten Händler, die ihre Waren aus China in Nepal umschlagen wollen. Der Eigentümer des Zelts ist selbst im Handel mit China tätig und kann dadurch nur selten Schutz bieten. Tsündi soll das Zelt als Bhatti (Garküche für Einheimische und Händler) und Übernachtungsmöglichkeit für Händler nutzen. Die Hälfte des Einkommens geht an den Eigentümer des Zelts. Als Gegenleistung kann sie mit ihrer Tochter in den Sommermonaten im Zelt wohnen. Da Alkohol und – laut Einheimischen auch Gewalt – insbesondere in der Zeltsiedlung weit verbreitet ist, ist die sehr hübsche Frau mit dem Aussehen eines 18jährigen Mädchens potentiell (sexueller) Gewalt insbesondere durch die Übernachtungsgäste ausgesetzt. Im Winter geht Tsündi mit ihrer kleinen Tochter in den Süden Dolpas, sucht dort Arbeit und eine Unterkunft und kehrt im Frühjahr, wenn der Handel mit China wieder zunimmt, in die Zeltsiedlung zurück. Sie hat ihr Nak seit sechs Monaten, und obwohl die Dorfbewohner ihr bisher kein Zimmer gegeben haben, ist es ihr mit dem Nak gelungen, in eine Hütegemeinschaft des Dorfes aufgenommen zu werden. „Das Nak ist der einzige Besitz, den ich habe, und ich gebe sehr gut darauf Acht.“ Sie hat diesen Sommer etwas Geld gespart und hofft, im nächsten Jahr im Dorf einen Vermieter zu finden.
Sonam L. – eine Erfolgsgeschichte
Ein solches Zelt und der Handel mit China können unter anderen Umständen auch sehr zum wirtschaftlichen Aufschwung für die allein erziehende Mutter beitragen. Sonam L. ist 44 Jahre alt, geschieden, Mutter eines 14jährigen Sohnes und eine Frau, der man die Durchsetzungsfähigkeit sofort anmerkt. Vor 3 Jahren erhielt sie das Nak, es hat bereits zwei Kälber. Sie hat das Zelt für 35.000 Rupien gekauft und stellt es nicht in Zeltsiedlungen auf, sondern dort, wo ihre Nak-Hütegemeinschaft gerade lagert und wo
auch Karawanen des Tibethandels durchziehen, also in einem deutlich geschützteren Umfeld. Sie hat dem Zelt (Bhatti und Unterkunft) noch eine weitere Komponente hinzugefügt: Sie webt Taschen für Mulis und Yaks und Schürzen für die Frauen der Treiber und verkauft beides direkt an ihre Gäste. „Meine Hände stehen niemals still“, sagt sie. Die Milchprodukte ihres Naks (Butter, Tschurpi) nutzt sie unmittelbar im Bhatti und reduziert so die Kosten für die Bewirtung. In guten Monaten verdient sie mit ihrem Zelt 15.000-30.000 Rupien (ein Spitzenverdienst für eine allein erziehende Mutter), ansonsten 5000-10.000 Rupien. „Die schwere Arbeit auf den Feldern, die ich früher verrichten musste, mache ich jetzt nicht mehr“.
Die Mütter sind unendlich dankbar für die Naks
Unterstützung für die in Dolpa lebenden Menschen ist nach wie vor so rar wie 2010 beschrieben. Die Dankbarkeit der Mütter für die Naks ist überwältigend: Fast alle Mütter überreichten uns die tibetischen Begrüßungsschals (Khata), viele wollten SHN und mir eine Tüte Tschurpi schenken. Wir nehmen keine Geschenke an, aber ich habe mir mehrfach den Wert oder Aufwand für das geplante Geschenk erklären lassen. Tshumi G. (49 Jahre, unverheiratet, 2 Kinder) wollte mir 5 kg Butter (Wert: 10.000 Rupien, die Produktion von 3 Monaten/der Wintervorrat für 2,5 Familien) schenken. Tsiring S. aus Khomagaon (37 Jahre, unverheiratet, 2 Kinder) wollte mir 2,5 kg Tschurpi und 0,5 kg Djirrach schenken. Djirrach ist eine Wildpflanze, die als Würze in Linsensuppe begehrt ist. Für diese 500 Gramm hatte sie 2 Wochen lang die Pflanze gesammelt, sie anschließend gereinigt, getrocknet und geschnitten. Pema K. (46 Jahre, 1 Tochter, von ihrem Mann verlassen) wollte mir sogar eine selbst gewebte Decke aus Nakwolle schenken. Für eine Decke muss man vier Jahre lang im Frühjahr die Unterwolle eines Yaks oder Naks auskämmen und sammeln, sie waschen, spinnen, teilweise färben, sie verweben und die schmalen Streifen aneinander nähen. Nakdecken sind viel wärmer als Decken aus Schafwolle, sie sind Lamawolle vergleichbar. Nakdecken sind ein wertvoller Besitz armer Familien.
Nak oder Dschomo?
Grundsätzlich entscheidet immer die jeweilige Mutter, welches Tier sie erhalten möchte. In Upper Dolpa wollten in den vergangenen drei Jahren einige Mütter statt eines Naks ein Dschomo. Ein Dschomo ist eine Kreuzung (Nak und Stier). Anders als Naks kann man sie auch am Haus halten und muss daher weniger Hütedienste machen. Vor allem Mütter mit sehr kleinen Kindern und Mütter, die ihre Eltern pflegten, wollten lieber ein Dschomo, obwohl sie dafür sehr viel Winterfutter (Heu) machen müssen. Dschomos sind viel kleiner als Naks und haben dünnes Fell wie eine Kuh. Sie können daher im Winter nicht auf den Hochweiden bleiben. Sie geben etwas mehr Milch als Naks, aber andererseits liegt der Erlös für ein ausgewachsenes männliches Kalb nur bei 25.000 Rupien (Yak: 80.000 Rupien), weil sie weniger Fleisch haben und nicht zum Pflügen oder für Karawanen genutzt werden können. Dschomos geben auch keine Wolle. Sie werden mit Yaks gekreuzt und ihr Nachwuchs ist weiter kreuzungsfähig mit Yaks. – Ich halte Naks für die bessere Hilfe für die Mütter, aber SHN und Esel-Initiative respektieren immer den Wunsch der Mütter. Die meisten Mütter wollen nach wie vor Naks.
Mangelernährung und fehlende Toiletten in Dolpa
Bevor die Mütter die Naks erhielten, hatte nahezu keine allein erziehende Mutter Zugang zu Milchprodukten, d.h. die Ernährung bestand fast ausschließlich aus Kohlehydraten (ca. 80-90%: Gerste). Milchprodukte sind nahezu die einzigen Protein- und Fettlieferanten für die Familien der allein erziehenden Mütter, da Öl teuer ist. Gerstenbrei (Tsampa), Gerstensuppe, geröstete Gerstenkörner und Dirrho (gekochter Buchweizenbrei) sind die Hauptnahrungsmittel. Für ein paar Monate im Jahr haben die Familien etwas Kartoffeln als Beilage. Zwei Monate lang können sie im Sommer Sark (grünes Gemüse ähnlich wie Mangold) anbauen. Da ein Feld oft nur 20-40 qm groß ist, und viele Mütter nur ein einziges Feld haben/pachten können, überlegen sie sehr genau, was sie darauf anbauen. Felder zu pachten, ist nicht sehr lukrativ: Fürs Pflügen müssen die Mütter Tagelöhnerdienste verrichten. Von z.B. 5 Sack geernteter Gerste müssen sie 2 als Pacht abgegeben und einen für die nächste Aussaat aufheben, so dass bei all der Mühe nur 2 Sack für die Ernährung der Familie bleiben. Es gibt keinerlei Obstanbau oder Ernte von Wildobst; Hühnerhaltung ist auf dieser Höhe nicht möglich (zudem gibt es viele Adler). Reis können sich die meisten allein erziehenden Mütter nur ganz selten leisten; Linsen kannten viele Mütter gar nicht. Wenn möglich, stillen die Mütter selbst 2jährige Kinder noch. Schon 14 Tage alten Babys schmieren die Mütter erstmals einen dünnen, sehr lange gerührten Gerstenbrei auf die Lippen, um sie möglichst früh an diese Zusatznahrung zu gewöhnen.
Die einzige Möglichkeit, auf über 4000 m länger und vielfältigeres Gemüse anzubauen, sind Gewächshäuser. 2010 habe ich in Upper Dolpa nur ein einziges gesehen; 2016 gab es in jedem Dorf etliche. Aber für die allein erziehenden Mütter ist dieses Gemüse unerschwinglich und selbst wir konnten (obwohl SHN in Dolpa sehr geschätzt wird) kaum einmal Sark von den Reichen kaufen, weil bisher einfach zu wenig produziert wird. Eine allein erziehende Mutter, die schon erwähnte Tsiring S. aus Khomagaon, hatte selbst begonnen, sich auf ihrem kleinen Feld (Gerste und Buchweizen) ein Gewächshaus zu bauen. Die Lehmwände waren fertig, aber die Stangen zu kurz, um eine Plastikplane abzustützen. Dennoch ist selbst dieser noch unfertige Bau eine enorme Leistung der unverheirateten Mutter. In Dolpa werden statt eines „Holzdachstuhls“ oft nur ein paar Stangen und ein Drahtgeflecht benutzt, um die Plane festzuhalten. Holz muss aus Phoksundo oder Tibet auf dem Rücken von Männern oder Yaks in die Dörfer getragen werden.
SHN und Esel-Initiative haben daher beschlossen, den Bau kleiner Gewächshäuser, den wir in Upper Mustang begonnen haben, auf Upper Dolpa auszuweiten. Da die Dörfer in Upper Dolpa im Schnitt 1000 m höher liegen als in Upper Mustang, werden die Mütter sie für Gemüseanbau nur für 8-9 Monate im Jahr benutzen können. Aber im Winter dienen Gewächshäuser in Upper Dolpa als Wohnzimmer, weil sie die einzigen Räume sind, die wenigstens tagsüber richtig warm werden. Vor der Vergabe müssen die Mütter wie in Upper Mustang schriftlich nachweisen, dass man ihnen das Stück Land dauerhaft überlassen hat. Ich habe mit Laxmi vereinbart, dass SHN vor der Vergabe der Gewächshäuser eine neue Erhebung in den Dörfern Upper Dolpas macht, wer aktuell allein erziehende Mutter ist, damit auch die „neuen“ allein erziehenden Mütter einbezogen werden. Eine allein erziehende Mutter, die noch kein Nak/Dschomo erhalten hat, soll diese wichtigste Überlebenshilfe ebenfalls erhalten.
Da es in den meisten Dörfern in Upper Dolpa nach wie vor keine Toilette gibt, Männer und Frauen, Kinder und Alte die Ortschaft verlassen müssen, um sich ein Plätzchen zu suchen, haben wir außerdem vereinbart, in Upper Dolpa Toiletten zu bauen. Da die wenigsten Mütter ein eigenes Haus haben, können wir die Toiletten nicht im Haus der Mutter bauen. Daher sollen mehrere Toiletten verstreut über das jeweilige Dorf gebaut werden. Alle Dorfbewohner sollen sie benutzen dürfen, aber per Vereinbarung mit den Dorfentwicklungskommittees (VDC) soll der gesamte Dung nur von den allein erziehenden Müttern genutzt werden dürfen. Das wird die Landwirtschaft der Mütter sehr vereinfachen, da es zeit- und kräfteraubend ist, den Dung der primär auf Hochweiden lebenden Yaks und Naks zu sammeln und hinunter auf die nahe der Dörfer gelegenen Felder zu tragen.
Hebammen
SHN hat mehrfach versucht, ein Hebammentraining für Upper Dolpa zu organisieren, aber es war jedes Mal unmöglich, die Frauen zeitlich so zu koordinieren, dass sie zumindest nahezu gleichzeitig in Kathmandu ankommen würden. Nur in wenigen Dörfern gibt es ein Telefon. Mobiltelefone haben keinen Empfang. Wir hatten ein Satellitentelephon für evtl. Notfälle mit, aber selbst das hatte in manchen Regionen keinen Empfang. Die Dörfer liegen oft mehrere Tagesmärsche auseinander – mit Pässen zwischen 5000 und 5600 m. Ein Hebammentraining ist angesichts der derzeitigen Infrastruktur leider noch undurchführbar.
Allerdings habe ich in Santa (ca. 1,5 Tagesmärsche vom Krankenhaus in Jomsom entfernt) die von uns trainierte Hebamme Tensing P. getroffen (sie hatte am ersten Kurs für die Regionen Upper Mustang/Manaslu teilgenommen). Die junge Frau betreut pro Jahr 4-5 schwangere Mütter in Santa und Phalak (Distanz zwischen beiden Dörfern: zu Fuß: ein Tag; per Pferd: ½ Tag; sie erhielt nach dem Training ein Pferd). Tensing besucht jede Schwangere 3 bis 4 mal. „Phalak liegt näher an Jomsom und das Wissen über die Notwendigkeit einer sterilen Geburt ist dort höher als in Santa; in Santa werde ich viel mehr auch zur Aufklärung und Information gebraucht“, sagte Tensing. „In beiden Dörfern wissen die Familien, dass ich das Training bekommen habe, und die Schwangeren melden sich bei mir von sich aus. Manchmal muss ich mit Schwiegermüttern über die beste Methode z.B. zum Abnabeln oder die Bedeutung steriler Laken auch für das Neugeborene erst diskutieren, aber letztlich vertrauen sie dann dem, was ich in Kathmandu gelernt habe. Natürlich ist eine Decke aus Nakwolle wärmer und kuscheliger für ein Neugeborenes, aber wie soll man eine Nakdecke wirklich steril bekommen? Man braucht zuunterst ein steriles Tuch. Aber man muss immer würdigen, dass auch die Schwiegermütter mit ihrem traditionellen Wissen nur das Beste für ihren Enkel wollen.“ Mütter, die schon Kinder haben, entscheiden sich oft für die Hausgeburt mit Tensings Hilfe. Tensing insistiert, dass alle vermutlich schwierigen Entbindungen im Krankenhaus in Jomsom stattfinden. Hilfe bei Komplikationen während der Geburt wäre theoretisch per Helikopter aus Pokhara möglich, de facto aber für kaum eine Familie finanzierbar. Bei absehbar schwierigen Geburten lässt Tensing ihre beiden kleinen Söhne bei den Schwiegereltern und begleitet die Schwangere ins Krankenhaus nach Jomsom, um dem Personal alle Informationen über den Verlauf der Schwangerschaft zu geben und vor allem, um im Fall des Falles für eine Entbindung unterwegs bereitzustehen. Es gibt inzwischen eine mit Jeep, Traktor und Motorrad befahrbare Trasse zwischen Jomsom und Santa, aber die Zahl der Schlaglöcher, die eine plötzliche Geburt auslösen können, ist enorm. Dennoch ist die Trasse für Krankentransporte ein unschätzbarer Vorteil.